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Ohne Gerechtigkeit kann es keinen Frieden geben

  • Autorenbild: Nikolai Klimeniouk
    Nikolai Klimeniouk
  • 3. Mai
  • 5 Min. Lesezeit

Der Ukraine-Friedensinitiative der neuen Regierung in Washington mangelt es an Bezug zu den bitteren Realitäten. Wie viele im Westen will auch Donald Trump nicht begreifen: Kein Krieg mit Russland bedeutet noch lange keinen Frieden.

Veröffentlicht in: NZZ, 03.05.2025


Screenshot: NZZ.ch
Screenshot: NZZ.ch

Es ist bemerkenswert, mit welcher Hartnäckigkeit die Vorschläge der US-Regierung zur Zukunft der Ukraine als «Friedensplan» bezeichnet werden. Ein Vorschlag sah unter anderem die De-iure-Anerkennung der russischen Annexion der Krim vor. Als der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski erklärte, dass die Ukraine dies niemals akzeptieren könne – es widerspreche sowohl dem Völkerrecht als auch der ukrainischen Verfassung –, warf ihm Donald Trump vor, den Frieden zu verweigern. Selenski müsse einsehen, dass die Krim bereits unter der Präsidentschaft Obamas verlorengegangen sei; die Ukraine habe damals keinen Widerstand geleistet – also gebe es nichts mehr zu besprechen.


Der amerikanische Vorstoss entfachte wieder einmal die absurde Debatte, ob die Krim nicht «eigentlich» zu Russland gehöre – schliesslich sei die Halbinsel bereits 1783 und erneut 2014 von Russland erobert worden.


Was Trump dabei egal sein dürfte und was viele Kommentatoren offensichtlich nicht verstehen: Kein Krieg mit Russland bedeutet noch lange keinen Frieden. Zudem kommt ein Verzicht auf die Krim für die Ukraine noch viel weniger infrage als die Aufgabe aller anderen von Russland besetzten Gebiete – und das nicht nur wegen ihrer strategischen Bedeutung. Die indigenen Krimtataren gehören heute fest zur ukrainischen Bürgernation, und sie haben ausserhalb der Krim keine andere Heimat. Doch genau darum geht es der Ukraine in diesem Krieg: Sie verteidigt nicht so sehr Territorien, sondern ihre Bürger.


Bild: NK&Ari
Bild: NK&Ari

Die Moriori zum Beispiel

Diese Debatte wirft auch die grundsätzliche Frage auf, was Frieden eigentlich ist und wie er nach dem Ende des russisch-ukrainischen Krieges aussehen könnte. «Ohne Gerechtigkeit kann es keinen Frieden geben, und Gerechtigkeit muss nicht nur als solche gesehen, sondern auch tatsächlich gelebt werden. Selbst wenn es noch 200 Jahre dauern sollte, bis es so weit ist», schrieb 2019 Maui Solomon, ein neuseeländischer Anwalt, Menschenrechtsaktivist und Anführer der Moriori. An das Schicksal dieses Volkes erinnerte nun der amerikanisch-ukrainische Ökonom Roman Sheremeta mit Blick auf die Ukraine-Politik der amerikanischen Regierung.

«Aus russischer Sicht wäre eine Finnlandisierung ganz Europas ideal, nicht nur jene der Ukraine.» (Sofi Oksanen)

Die Moriori bewohnten die Südseeinsel Rekohu, die heute Chatham Island heisst und zu Neuseeland gehört, und pflegten eine Kultur des radikalen Pazifismus. 1835 landeten Maori-Krieger auf der Insel, nahmen das Land in Besitz und erklärten die Moriori zu ihren Knechten. Obwohl diese den Invasoren zahlenmässig überlegen waren, entschieden sie sich aus Prinzip gegen gewaltsamen Widerstand. Mehrere hundert Moriori wurden erschlagen und teilweise Opfer von Kannibalismus, der Rest wurde versklavt.


In den folgenden Jahren wurden ihre Heiligtümer entweiht, ihre Sprache verboten; sie durften nicht mehr untereinander heiraten oder Kinder miteinander haben. Seit den 1860er Jahren appellierten die Ältesten der Moriori vergeblich an die Vertreter der britischen Krone, ihre Rechte wiederherzustellen. Ein auf die Insel entsandter Richter, John Rogan, entschied 1870, dass alles rechtens gewesen sei: Die Moriori seien von den Maori erobert worden und hätten dadurch ihr Recht auf ihr gesamtes Land verloren. Donald Trump hätte es nicht besser formulieren können.


1933 starb mit Tommy Solomon der letzte Mensch, dessen Eltern beide Moriori waren. Doch damit war die Geschichte der Moriori nicht zu Ende: Ihre Nachfahren, unter ihnen Tommy Solomons Enkel Maui, beleben ihre Kultur und Sprache wieder und kämpfen für Entschädigungen und für die Rückgabe ihrer Länder.


Russlands «Befreiung»

Das erinnert auf eine fast unheimliche Weise an die Geschichte der Krim unter russischer Herrschaft. 1783 gelang es Russland, mit diplomatischer und militärischer List die Krim ohne Kämpfe zu erobern. Der dortige Staat, das Krim-Khanat, wurde vernichtet, etwa die Hälfte der Krimtataren ins Exil vertrieben. Vom Festland wurden Siedler auf die Krim gebracht und an den verbliebenen Krimtataren immer wieder Massaker verübt – bis sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Minderheit im eigenen Land geworden waren.


Doch was russischer Frieden in Wahrheit bedeutet, zeigte sich besonders drastisch im Zweiten Weltkrieg. Im Mai 1944 wurde die Krim von der Roten Armee zurückerobert. Das Wort «Befreiung» wäre in diesem Fall äusserst unpassend: Gleich nach der Rückeroberung wurde die Krim von allen historischen Bewohnern gesäubert – neben den Krimtataren wurden auch Krimgriechen, Italiener, Bulgaren, Deutsche, Karäer und Krimtschaken deportiert.


Die Krimtataren konnten erst nach der Unabhängigkeit der Ukraine aus der Verbannung in ihre Heimat zurückkehren – und werden seit der erneuten Annexion durch Russland wieder unter Druck gesetzt. Zu den vielen Ironien der Geschichte gehört, dass die ukrainische Gesellschaft die Krim erst nach ihrer Annexion zu verstehen und anzunehmen begann. Ein Volk wie die Krimtataren, das auf seinem Land von Russland geknechtet wird, aber nicht aufgibt – damit konnten sich die Ukrainer gut identifizieren. Die Krim führt besonders deutlich vor Augen, dass russische Besetzung, selbst wenn sie fast kampflos verlief, heute wie früher keinen Frieden bedeutet, sondern Unterwerfung unter Willkürherrschaft, Enteignungen, Säuberungen und Zwangsassimilierung.


Jeder Friedensvorschlag, der nicht die vollständige Rückgabe der besetzten Gebiete und die Rückkehr Zehntausender entführter Kinder vorsieht, ist deshalb aus ukrainischer Sicht kein Frieden, sondern bestenfalls ein mehr oder minder sicherer Waffenstillstand.


Doch die Wiederherstellung des Staatsgebiets reicht für einen stabilen Frieden nicht aus. Wie dieser erreicht werden könnte, hat eine Gruppe ukrainischer Intellektueller und Politiker im 2023 veröffentlichten «Manifest für nachhaltigen Frieden» formuliert. Dazu gehört zum einen, die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine zu stärken, aber auch, die Kriegsursachen zu beseitigen. Das soll durch politische Reformen in Russland geschehen. Ausserdem müsse Russland aus internationalen Organisationen ausgeschlossen werden sowie die Reparationen zahlen.


Das Manifest fordert auch die konsequente Bestrafung der Verantwortlichen und Kriegsverbrecher: «Man kann weder Frieden auf Kosten der Gerechtigkeit noch Gerechtigkeit auf Kosten des Friedens erreichen. Für eine nachhaltige internationale Sicherheit müssen Gerechtigkeit und Frieden gleichzeitig erreicht werden. Deshalb muss der Aggressor die Verantwortung für den Krieg tragen.» Diese Sichtweise hat sich in der Ukraine weitgehend etabliert – wenn auch als Vision einer Zukunft, die heute ferner denn je scheint.


Russland spricht ebenfalls vom Frieden, meint damit aber die Kapitulation der Ukraine. Die angedeutete Minimalforderung erinnert an die historische «Finnlandisierung»: Verzicht auf territoriale Ansprüche, Neutralität und politische Bindung an Russland. Nach dem Überfall durch die Sowjetunion im sogenannten Winterkrieg (1939–1940) musste Finnland erhebliche Gebiete an den Aggressor abtreten, konnte jedoch seine staatliche Unabhängigkeit bewahren.


Das hatte seinen Preis: Während des Kalten Krieges führte Finnland eine offiziell neutrale, in Wirklichkeit jedoch stark auf sowjetische Interessen Rücksicht nehmende Politik. Offene Kritik an der Sowjetunion war tabu, und auch innenpolitisch mussten die Finnen zahlreiche Kompromisse akzeptierten, darunter Zensur und massive Eingriffe in Umwelt- und Verbraucherschutz, Bildung und Kultur.


Die Schriftstellerin Sofi Oksanen beschreibt in einem Essay aus dem Jahr 2022 die traumatische Erfahrung dieser Epoche und warnt vor ihrer Wiederholung: «Da die Finnlandisierung vom Standpunkt der Sowjetunion aus eine Erfolgsgeschichte war, liegt es nahe, dass Russland ihre Lehren wiederholen will. Aus russischer Sicht wäre eine Finnlandisierung ganz Europas ideal, nicht nur jene der Ukraine.»


Korea als Vorbild?

Der westliche Ansatz, der eine Teilung der Ukraine nach koreanischem Muster ins Spiel bringt, erscheint heute am realistischsten, hat aber erhebliche Tücken. Die Grenze zwischen Russland und der Ukraine ist über 2200 Kilometer lang, während die innerkoreanische Grenze nur 248 Kilometer misst und im Süden bis heute durch eine massive amerikanische Militärpräsenz geschützt wird. In der Ukraine wäre zwar eine vergleichbare europäische Präsenz denkbar, doch sie setzt den politischen Willen Europas voraus, Truppen mit einem robusten Mandat zu entsenden. Dieser Wille wurde bislang weder erkennbar geäussert noch ein praktikabler Vorschlag unterbreitet, wie eine solche Lösung durchgesetzt werden könnte. Vor allem aber braucht die Ukraine eine starke Armee, eine leistungsfähige Rüstungswirtschaft – und eine deutlich stärker militarisierte Gesellschaft, als Südkorea sie je hatte.


Noch gravierender ist ein weiterer Unterschied: Die Bevölkerung Nordkoreas ist trotz jahrzehntelanger Teilung und ideologischer Einflussnahme koreanisch geblieben, während Russland in den besetzten Gebieten der Ukraine eine systematische Auslöschung ukrainischer Identität betreibt.


In einigen Jahren werden die meisten verbliebenen Einwohner der besetzten Festlandgebiete entweder vollständig russifiziert sein oder – falls sie sich widersetzen – vertrieben oder ermordet worden sein. Diese bittere Aussicht ist den meisten Ukrainern schon heute bewusst. Und gerade deshalb wird die Krim für die Ukraine immer wichtiger: weil es dort auch künftig Menschen geben wird, die Russland ablehnen, ihre Identität bewahren – und loyal zum demokratischen ukrainischen Staat stehen.

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