Warum kein arabisches Land Zivilisten aus Gaza aufnimmt
- Nikolai Klimeniouk
- 18. Aug.
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 22. Aug.
Das palästinensische Flüchtlingsproblem entstand durch den Versuch, Israel zu vernichten, und wird von den arabischen Staaten seither instrumentalisiert. Das bittere Schicksal der Palästinenser treibt die Welt um, wobei für die anhaltende Misere gern Israel allein verantwortlich gemacht wird. Dabei haben die arabischen Nachbarn und die Palästinenser selbst das Flüchtlingsproblem massgeblich mit herbeigeführt.
Veröffentlicht in: NZZ, 18.08.2025

Gaza ist eine Kampfzone, und Kampfzonen sind tödlich für unbeteiligte Zivilisten. In diesem Fall wird ihre ohnehin dramatische Lage zusätzlich dadurch verschärft, dass die Staaten der Region, allen voran das Nachbarland Ägypten, es weiterhin kategorisch ablehnen, Zivilisten aus Gaza Schutz zu gewähren. Dieser Widerstand hat eine lange Geschichte, gehört zum Kern des Konflikts, findet aber kaum Beachtung in der gegenwärtigen Diskussion.
Das gängige Argument arabischer Staaten, dass sie befürchteten, Israel könnte den Geflüchteten die Rückkehr verwehren und so vollendete Tatsachen schaffen, wird von der westlichen Öffentlichkeit meist ohne Widerspruch akzeptiert – ebenso wie die These, dass die Aufnahme der Palästinenser diese Länder destabilisieren würde. So wird das Leiden und Sterben von Menschen in Kauf genommen, um deren Interessen es vermeintlich geht. Würde man mit derselben Logik gegen die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge in Europa argumentieren, wäre der Aufschrei zu Recht gross.
Andere Massstäbe
Aber für Palästina – sprich Gaza, das Westjordanland und Ostjerusalem – gelten offenbar grundsätzlich andere Massstäbe. Es ist weltweit das einzige bewohnte Gebiet, das völkerrechtlich weder souveräner Staat ist noch zu einem Staat gehört. Eines der grössten Hindernisse für die Gründung eines palästinensischen Staates war bisher die Forderung nach der Rückkehr aller Flüchtlinge. Bei anderen Streitpunkten wie dem genauen Grenzverlauf oder dem Status Jerusalems als Hauptstadt zeigte sich in mehreren Friedensverhandlungen mit Israel auf beiden Seiten zumindest eine gewisse, wenn auch sehr geringe Kompromissbereitschaft. In diesem Punkt aber blieben die Vertreter Palästinas und der arabischen Staaten unnachgiebig, während Israel höchstens bereit war, einer begrenzten Zahl die Rückkehr zu gestatten, da dies sonst die jüdische Bevölkerungsmehrheit aufheben würde.
Im Jahr 2000, als Israels Ministerpräsident Ehud Barak und der Palästinenserführer Yasir Arafat in Camp David über ein Friedensabkommen verhandelten, bot Israel an, einen palästinensischen Staat anzuerkennen. Das Angebot umfasste Gaza, über 90 Prozent des Westjordanlandes mit zusätzlichen Landtauschoptionen und Jerusalem als geteilte Hauptstadt. Die Gespräche scheiterten nicht zuletzt an der Forderung nach der Rückkehr aller Flüchtlinge. Barak sagte damals – und wiederholt es seither –, eine vollständige Rückkehr würde entweder den jüdischen oder den demokratischen Charakter Israels zerstören.
Statt Frieden und Staatsgründung folgten viereinhalb Jahre Terror und Horror, die sogenannte zweite Intifada (2000–2005). In dieser Zeit wurden rund 1100 Israeli getötet, fast 80 Prozent von ihnen Zivilisten, sowie etwa 3200 Palästinenser, geschätzt zu 35 bis 53 Prozent Mitglieder terroristischer Gruppen. Zum Schutz vor den Anschlägen errichtete Israel die Sicherheitsmauer und ein rigides Grenzregime mit zahlreichen Kontrollpunkten.
Diese Massnahmen reduzierten zwar die Zahl der Anschläge deutlich, schränkten aber das Leben und die Bewegungsfreiheit der Palästinenser stark ein. Heute ist es schwer vorstellbar, dass man sich vor 2000 zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten weitgehend frei bewegen konnte. Und vor der ersten Intifada (1987–1993) gab es gar keine israelischen Checkpoints und verhältnismässig wenige jüdische Siedlungen.
Das Flüchtlingsproblem entstand infolge des Unabhängigkeitskriegs von 1948/49. Auf Israels Staatsgründung reagierte eine Koalition arabischer Staaten sogleich mit einem Angriff, um den jüdischen Staat zu vernichten. Bis zu 760 000 vor Ort lebende Araber wurden danach zu Flüchtlingen. Israelische und palästinensische Historiker stimmen in vielen Details des Ablaufs überein, unterscheiden sich jedoch deutlich in der Gewichtung der Ursachen: Während Benny Morris oder Anita Shapira den Exodus vor allem als Folge von Kriegshandlungen, Angst und teilweise arabischen Evakuierungsanweisungen sehen, deuten Walid Khalidi oder Nur Masalha ihn primär als Ergebnis einer gezielten israelischen Vertreibungspolitik, für die es aber aus israelischer Sicht keine handfesten Belege gibt.
Der Sonderfall UNWRA
Gut dokumentiert ist dagegen die Handhabung der Situation 1949 durch die Kriegsparteien und internationale Vermittler, und sie war alles andere als typisch für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der anderenorts Millionen von Vertriebenen an- und umgesiedelt wurden, etwa aus den deutschen Siedlungsgebieten in Ostmitteleuropa nach Deutschland oder zwischen Indien und Pakistan. Überall wurden die Geflohenen und Vertriebenen von den Aufnahmestaaten als Bürger anerkannt – mit Ausnahme jener Araber, die bei der Aufteilung von Mandats-Palästina infolge des Krieges zu Flüchtlingen wurden.
Die arabischen Staaten verweigerten ihnen die rechtliche Aufnahme, obwohl sich viele bereits auf ihrem Staatsgebiet befanden. Laut Benny Morris sahen sie darin so oder so einen Vorteil: Eine israelische Weigerung, die Flüchtlinge zurückzunehmen, würde diese im Elend belassen und die Weltmeinung gegen Israel aufbringen. Eine Zustimmung hätte Israel destabilisiert und militärisch geschwächt. Beides würde zu seiner Auslöschung beitragen.
Schon in diesen frühen Jahren, so Morris in «Die Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems», sei allen israelischen Führungspersönlichkeiten klar gewesen, dass die Flüchtlinge zu einer «politischen Waffe gegen die Juden» geworden seien.
Da sich arabische Staaten auch weigerten, palästinensische Flüchtlinge dauerhaft zu versorgen, wurde – um ihre akute Not zu lindern – Ende 1949 auf Initiative und mit Mitteln vor allem der USA und Grossbritanniens die Uno-Agentur UNRWA gegründet. Ab 1951 wurde sie zu einer permanenten Struktur.
Auch das ein weltweiter Sonderfall: Das Uno-Flüchtlingswerk UNHCR versucht, die Zahl der Flüchtlinge durch Integration zu verringern; der Flüchtlingsstatus gilt nur für unmittelbar Betroffene und endet mit einer Einbürgerung. Bei der UNRWA hingegen wird der Flüchtlingsstatus an die Nachkommen männlicher Flüchtlinge weitergegeben und erlischt nicht einmal bei Einbürgerung in Drittstaaten.
Ausser Jordanien verweigern sämtliche arabischen Länder Palästinensern bis heute die Staatsbürgerschaft und gewähren ihnen nur eingeschränkte Rechte, um den Anspruch auf Rückkehr nicht zu verwässern und den moralischen Druck auf Israel nicht zu lockern. Die Rückkehrforderung wurde zu einer Chiffre für Israels Vernichtung. Die Zahl der registrierten palästinensischen Flüchtlinge ist inzwischen auf etwa 6 Millionen gestiegen. Hätte man auf diese Weise deutsche Vertriebene behandelt, gäbe es heute in Deutschland um die 25 Millionen staatenlose Schlesier und Ostpreussen, welche von der Rückkehr in die alte Heimat träumten.
Besonders stark ist die Ausgrenzung der palästinensischen Flüchtlinge in Libanon. Sie dürfen rund siebzig Berufe, darunter in Medizin, Recht und Ingenieurwesen, nicht ausüben, nicht im öffentlichen Sektor arbeiten, ihr Zugang zu staatlichen Bildungseinrichtungen, ihre Bewegungsfreiheit und ihre Eigentumsrechte sind stark eingeschränkt. Dennoch wird der Apartheid-Vorwurf schon seit den siebziger Jahren gegen Israel erhoben. Zudem wurde die Wahrnehmung des Konflikts in linken und postkolonialen Kreisen, aber auch in internationalen Gremien erheblich durch sowjetische Propaganda beeinflusst, die Israel schon sehr früh Genozid und Kolonialismus unterstellte.
Die Vertreibung der Juden
Dabei stammt die Mehrheit der Israeli entgegen dem verbreiteten Stereotyp aus dem Nahen Osten. Zwischen 1948 und den siebziger Jahren wurden bis zu 900 000 Juden aus muslimischen Ländern vertrieben oder zur Auswanderung gedrängt, ohne Hoffnung auf Rückkehr. Die meisten gingen nach Israel, wo sie und ihre Nachkommen heute mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung ausmachen. Etwa 21 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen im Übrigen arabische Staatsbürger, die – oder deren Vorfahren – während und nach dem Unabhängigkeitskrieg in Israel blieben.
1975 verabschiedete die Uno-Generalversammlung auf sowjetische Initiative eine Resolution, die Zionismus als Form von Rassismus und Rassendiskriminierung bezeichnete. Sie wurde mit dem Ende der UdSSR 1991 aufgehoben, aber das Framing prägt bis heute mehrere Generationen von Palästinensern, die im realitätsfernen Glauben erzogen wurden, dass sie eines Tages in ein «freies Palästina» zurückkehren werden, das an die Stelle Israels tritt. Der Traum von der Heimkehr und die Wut über ihre Unmöglichkeit sind für viele Palästinenser identitätsstiftend und ein Nährboden für Radikalisierung.
Interessante Einblicke in diese Welt gewährte unlängst das Gespräch des palästinensischen Aktivisten Mahmoud Khalil mit dem amerikanischen Journalisten Ezra Klein. Khalil, 1995 in Syrien geboren, wuchs in einem Flüchtlingslager nahe der Grenze auf, in dem sich alle nach der Rückkehr sehnten. Seine Familie habe, so erzählt er, nicht wahrhaben wollen, dass sie dort bleiben werde, «einige Jahre lang haben sie buchstäblich in einem Zelt gelebt, bevor sie es zu einem Lehmhaus ausbauten. Und dann beschlossen sie, ein Steinhaus zu bauen.»
Die Annäherung einiger arabischer Staaten an Israel interpretiert er als Verrat an Palästinensern. Deswegen, sagt er, sei das Massaker vom 7. Oktober «leider unvermeidlich» gewesen, um «den Kreislauf zu durchbrechen, um zu zeigen, dass die Palästinenser nicht gehört werden». Einen anderen Ausweg als Gewalt gegen Israel sieht dieses Weltbild nicht vor. Radikale Stimmungen und weitverbreitete Hamas-Sympathien in der palästinensischen Gesellschaft sind auch ein Grund, warum Ägypten und andere Länder der Region keine Flüchtlinge aus Gaza aufnehmen wollen.