Wie Putin die Helden von Minsk erfindet
- Nikolai Klimeniouk
- 3. Mai
- 3 Min. Lesezeit
Putin deutet die Geschichte. Die Propaganda ist in Deutschland in Teilen sogar erfolgreich. Und die Unkenntnis mancher deutscher Meinungsmacher groß, was Russland heute tatsächlich ist.
Veröffentlicht in: FAS, 03.05.2025

Am 29. April besuchte Putin gemeinsam mit dem belarussischen Machthaber Lukaschenko Wolgograd, ehemals Stalingrad, und erklärte anschließend, man habe der Verteidiger der Stadt gedacht: „Sie haben unsterblichen Ruhm erworben, sie haben bis zum Tod gekämpft, ebenso wie die Helden der Festung Brest, die Verteidiger von Minsk, Leningrad, Sewastopol und anderer unserer Städte.“
Dass Putin den Zweiten Weltkrieg politisch instrumentalisiert, ist nicht neu. Doch nun hat er mit nur einem Satz ein neues Niveau der Geschichtsklitterung erreicht – auch wenn seine Worte zunächst harmlos klingen. Aber nur solange man nicht genau hinhört, denn die bloße Erwähnung von Minsk in dieser Reihe ist eine dreiste Lüge. Minsk wurde nämlich bereits am sechsten Tag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion ohne nennenswerten Widerstand eingenommen. Als die deutschen Truppen am 28. Juni 1941 in die Stadt einrückten, herrschten dort chaotische Zustände. Die sowjetische Westfront war bereits zerschlagen, etwa 300.000 Rotarmisten gerieten in deutsche Gefangenschaft. Viele ergaben sich freiwillig, weil sie nicht für das Stalin-Regime kämpfen wollten und nicht ahnten, dass sie in der Gefangenschaft Misshandlungen und Tod erwarteten. Die sowjetische Propaganda hatte nach dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 ein positives Bild von Nazideutschland gezeichnet, und einige sowjetische Soldaten waren direkte Opfer dieses Pakts: So bestand das fast vollständig desertierte 29. Schützenkorps aus Einheiten des kurz zuvor annektierten Litauens.

Keine Heldentat, sondern Desaster und Verrat an den eigenen Bürgern
Bis Putin die ruhmreichen Helden von Minsk erfand, galt der schnelle Zusammenbruch der Westfront als eines der beschämendsten Kapitel des sogenannten „Großen Vaterländischen Krieges“ – eines, das man lieber verschwieg. Den Befehlshaber der Westfront, General Dmitri Pawlow, ließ Stalin schon im Juli 1941 erschießen – wegen angeblicher „Feigheit“ und „Verrats“, vor allem aber, um von eigenen strategischen Fehlentscheidungen abzulenken. Die sowjetische Propaganda blendete Niederlagen aus, vertuschte Verbrechen, redete die Rolle der Alliierten klein. Sie erfand Helden, wo keine waren, und deutete sinnloses Gemetzel, wie bei Rschew oder auf den Seelower Höhen, zu Heldentaten um. Putin geht noch einen Schritt weiter: Er erfindet eine Heldentat anstelle eines Desasters, das zudem für den Verrat an den eigenen Bürgern steht.
Die Zivilbevölkerung von Minsk wurde angesichts der absehbaren Niederlage nicht evakuiert, sondern sogar an der Flucht gehindert. Ein Drittel der Einwohner, rund 90.000 Menschen, waren Juden – und die meisten von ihnen wurden von den Besatzern ermordet. Das war kein Einzelfall, Ähnliches geschah in Odessa, Czernowitz und anderen Städten der Sowjetunion. Die Mitverantwortung der sowjetischen Führung für die extremen Opferzahlen, die ohnehin nicht aufgearbeitet wurde, soll nun endgültig vergessen werden. Dafür hat Putin dem Flughafen von Wolgograd den Namen „Stalingrad“ gegeben.
Große Unkenntnis darüber, was Russland heute tatsächlich ist
Die offiziellen Narrative aus Moskau und Minsk sind längst zur politischen Waffe geworden. Deshalb und nicht nur wegen des Angriffskrieges gegen die Ukraine wurden in Deutschland russische und belarussische Vertreter von zentralen Gedenkveranstaltungen zum 80. Jahrestag des Kriegsendes ausgeladen. Dass die russische Propaganda das als Missachtung der sowjetischen Opfer deutet – geschenkt. Doch Kritik kommt auch aus Deutschland. Die „Spiegel Online“-Kolumnistin Sabine Rennefanz etwa schrieb, man dürfe den Ostdeutschen nicht das gemeinsame Gedenken mit Russland nehmen, sonst werde es von AfD-Politikern und DDR-Nostalgikern gekapert, und warf dem ukrainischen Botschafter Oleksij Makejew gar vor, ebenfalls Geschichte zur Waffe zu machen, weil dieser die Teilnahme des russischen Botschafters Netschajew an der Gedenkfeier in Seelow scharf kritisiert hatte. Das zeigt, wie tief die sowjetische Indoktrination in der DDR nachwirkt, wie erfolgreich die heutige Propaganda ist – und wie groß die Unkenntnis mancher deutscher Meinungsmacher darüber bleibt, was Russland heute tatsächlich ist.