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Zohran Mamdani und die Leugnung des Offensichtlichen

  • Autorenbild: Nikolai Klimeniouk
    Nikolai Klimeniouk
  • vor 1 Tag
  • 6 Min. Lesezeit

Mit dem jungen Einwanderersohn Zohran Mamdani tritt in New York ein radikaler Linker und offenkundiger Antisemit als demokratischer Kandidat für das Bürgermeisteramt an. Begründete Kritik an ihm wird als bösartige Unterstellung abgetan. Das ist symptomatisch.

Veröffentlicht in: NZZ, 05.07.2025

Screenshot: NZZ.ch
Screenshot: NZZ.ch

Mit Zohran Mamdani hat in New York ein junger Sozialist die demokratischen Vorwahlen für die Bürgermeisterwahl gewonnen, der nach jedem politischen Massstab sehr weit links steht und mit radikalen Konzepten in den Wahlkampf zieht. Dieser Überraschungserfolg des neuen Hoffnungsträgers der Demokratischen Partei markiert mehr als nur die fortschreitende Radikalisierung der US-Politik. Er steht zugleich für eine noch gefährlichere Entwicklung: Die Leugnung offensichtlich bestehender Wirklichkeit wird zunehmend zur gesellschaftlichen Norm – quer durch politische Lager und über nationale Grenzen hinweg.


Mamdani bekennt sich stolz zu all seinen Überzeugungen. Mit einer Ausnahme: Er bestreitet seinen offensichtlichen, mehrfach bewiesenen, jedoch nie explizit geäusserten Antisemitismus und wird dabei von seinen Anhängern, die ihn sonst für seine Haltung feiern, entschlossen verteidigt.


Den Begriff überdenken?


Es ist noch nicht lange her, dass die Demokraten gegen alle Evidenz behaupteten, der sichtbar hinfällige Joe Biden sei in guter Verfassung und fit für eine zweite Amtszeit. Die Partei hielt an dieser Fiktion fest, bis die Wirklichkeit sie einholte und Biden seine Kandidatur zurückziehen musste. Nicht zuletzt diese beharrliche Leugnung der Realität hat die Demokraten den Wahlsieg gekostet. Doch statt daraus zu lernen, legen sie jetzt noch einen drauf.


Typisch für die Haltung in der Anhängerschaft des Bürgermeisterkandidaten ist ein Meinungsstück von M. Gessen in der bekanntesten Zeitung der Stadt, der «New York Times». In dem Beitrag mit dem Titel «Die Angriffe auf Zohran Mamdani zeigen, dass wir ein neues Verständnis von Antisemitismus brauchen» verteidigt Gessen den Politiker gegen rassistische Anfeindungen und suggeriert zugleich, der Vorwurf des Antisemitismus sei eine ebenso bösartige Unterstellung.


Folgerichtig fordert Gessen, den Begriff selbst grundsätzlich zu überdenken – damit er für die auf Israel fixierten Antisemiten wie Mamdani künftig gar nicht mehr zutrifft. Am Anfang des Artikels wird geschildert, wie kritische Nachfragen Mamdani zum Schluchzen bringen; es schmerzt ihn, wie er sagt, immer wieder Antisemit genannt zu werden. Das erinnere, so Gessen, an die Angst der zu Unrecht Beschuldigten in den stalinistischen Schauprozessen.


Der Verweis auf die Sowjetunion und den Stalinismus ist in der Tat sehr aufschlussreich, wenn auch nicht unbedingt so wie von Gessen beabsichtigt. In der Stalinzeit gab es mehrere antisemitische Kampagnen, bei denen es formell nie um Juden ging, sondern immer um etwas anderes: «wurzellose Kosmopoliten», «eine Verschwörung der Ärzte», «Agenten des Imperialismus». Doch jeder wusste, was gemeint war – und wer am Ende tatsächlich auf der Anklagebank landete.


Sowjetische Juden lebten in Angst vor Verfolgung und Deportation, die, so die verbreitete Meinung, nur durch Stalins Tod ausblieb. Später wurde der Kampf gegen die Zionisten zu einem der zentralen Motive sowjetischer Propaganda, besonders nach Israels Sieg im Sechstagekrieg 1967. Diese Propaganda war ebenso euphemistisch wie eindeutig in Rhetorik und Bildsprache, bediente sich nicht selten nationalsozialistischer Vorlagen und scheute sich dabei nicht, Zionisten als die neuen Nazis darzustellen.


Ideologieexport der UdSSR


Damit sie glaubwürdiger erscheint und um den Antisemitismusvorwurf abzuwehren, wurden dafür häufig mehr oder minder bekannte Juden eingespannt – im Inland wie im Ausland. Antizionismus war nämlich einer der wichtigsten Ideologieexporte der UdSSR. Und, wie man gerade sieht, auch einer der erfolgreichsten.


Zahlreiche Studien, etwa die aktuellen von Izabella Tabarovsky oder schon ältere von Baruch A. Hazan, zeigen, dass die heute allgegenwärtigen Narrative vom Landraub, von kolonialer Besiedlung oder vom Zionismus als Rassismus ihren Ursprung in der sowjetischen Propaganda haben. Gessen plädiert dafür, den Antisemitismus nach der sogenannten Jerusalemer Erklärung von 2021 zu definieren – verfasst und unterschrieben von etwa 370 meist jüdischen Intellektuellen –, die genau diese Art von «Israelkritik» aus der Antisemitismusdefinition ausschliessen soll.


Die unmittelbaren Auswirkungen dieser Kasuistik sieht man gleich in Gessens Text. Dort wird argumentiert, die Ermordung der zwei Mitarbeiter der israelischen Botschaft nach einer Veranstaltung im Jüdischen Museum in Washington oder der Brandanschlag auf die Solidaritätskundgebung für israelische Geiseln in Boulder, Colorado, seien zwar politischer Terror, aber gar nicht antisemitisch. Ironischerweise beginnt ausgerechnet mit diesen beiden Beispielen der Redaktionsartikel vom 14. Juni in derselben «New York Times», dessen Titel allein schon alles sagt: «Antisemitismus ist ein dringendes Problem. Doch zu viele Menschen finden dafür Ausreden».


Diese Logik ist keine Exklusiveigenschaft amerikanischer Debatten, sie zeigte sich zum Beispiel bereits 2016 in Deutschland. Damals begründete das Oberlandesgericht in Düsseldorf eine vergleichsweise milde Strafe für drei junge Männer, die zwei Jahre zuvor einen Brandanschlag auf die Synagoge in Wuppertal verübt hatten, damit, dass die Tat nicht antisemitisch gemeint gewesen sei, sondern als Protest gegen Israels Vorgehen in Gaza.


Eine der unangenehmsten Folgen der Leugnung der für alle sichtbaren Realität oder allgemein bekannter Fakten ist die erniedrigende Notwendigkeit, das Offensichtliche immer wieder beweisen zu müssen – wie es derzeit etwa das «Wall Street Journal», «Politico» und andere Medien tun, die Mamdanis Äusserungen zusammengetragen und eingeordnet haben, teilweise Jahre zurückreichend.


Ähnlich muss man sich nach dem Faschistengruss gefühlt haben, den Elon Musk bei Donald Trumps Amtseinführung zeigte. Dann hiess es plötzlich im konservativen Lager, es sei gar nicht das, was man gesehen habe, sondern der historische Bellamy-Salut – von dem die meisten Menschen selbst in den USA nie etwas gehört hatten. Oder eine harmlose Geste, die von den politischen Gegnern durch Schnitt und Perspektive manipulativ verzerrt worden sei.


Es mehren sich Berichte, dass sich Bewerber auf Posten in Sicherheitsdiensten, der Justiz oder parteinahen Jobs zu den zwei Grundlügen der Maga-Welt bekennen müssen: dass Trump der eigentliche Wahlsieger von 2020 gewesen sei und dass die Erstürmung des Capitols keine Revolte, sondern ein friedlicher Protest gewesen sei.


Entweder platt oder verklausuliert


Spätestens mit dem politischen Aufstieg Donald Trumps gilt das systematische Lügen und Verdrehen von Fakten als zentrales Element der neurechten Politik. Die ehemalige Chefkritikerin der «New York Times» – schon wieder diese Zeitung! – Michiko Kakutani beschreibt Trump in ihrem einflussreichen Buch «The Death of Truth» (2018) als das extreme Ergebnis einer Entwicklung, die sich vor allem im rechten Lager durchgesetzt hat, aber ihren Ursprung durchaus in linken akademischen Milieus nahm. Seit den sechziger Jahren, so Kakutani, habe die postmoderne Philosophie mit ihrer Kernthese, dass es objektive Wahrheit gar nicht gebe, die intellektuellen Voraussetzungen für die Verbreitung rechter Demagogie und sogenannter «alternativer Fakten» geschaffen.


Den Sündenfall der linken Theorie verortet Kakutani in einem Skandal aus dem Jahr 1987. Damals wurde bekannt, dass der vier Jahre zuvor verstorbene Star der Dekonstruktionsszene, Paul de Man, während der deutschen Besetzung Belgiens über hundert Artikel für eine nazinahe Zeitung geschrieben hatte, darunter auch offen antisemitische Texte. Noch verstörender, so Kakutani, sei jedoch gewesen, wie einige seiner Verteidiger – unter ihnen kein Geringerer als Jacques Derrida – die Prinzipien ihrer Philosophie einsetzten, um de Mans beanstandete Schriften zu relativieren. Sie suggerierten, de Mans Worte könnten das Gegenteil dessen gemeint haben, was sie vordergründig aussagten, oder es sei aufgrund der inhärenten Mehrdeutigkeit seiner Sprache ohnehin nicht möglich, ihm moralische Verantwortung zuzuschreiben.


Diese Episode illustriert den vielleicht auffälligsten Unterschied zwischen rechter und linker Demagogie. Die Lügen von rechts sind meist plump, dafür zahlreich. Die von links kommen oft verklausuliert daher, sind dafür aber grundlegender – und umso schwerer zu entlarven.


So lässt sich immer behaupten, die Erde sei nicht wirklich rund oder Schwarz und Weiss seien keine Farben. Vom Standpunkt der Geometrie oder der Physik mag das sogar korrekt sein – doch ausserhalb eines streng naturwissenschaftlichen Kontextes ist das eher eine gezielte Verzerrung. Doch genau diese Argumentationsmuster werden in der Antisemitismusdebatte oder auch in der Genderdebatte eingesetzt – die beiden Kernelemente der vermeintlich progressiven Orthodoxie.


Angesichts dieser strukturellen Verwandtschaft ist es kaum überraschend, dass sich Teile der queeren Bewegung mit den antizionistischen Kräften und sogar mit islamischen Fundamentalisten solidarisieren, was für die Aussenstehenden wie ein unauflösbarer Widerspruch wirkt.


Der globale Siegeszug des Populismus hat die klassische Aufteilung in links und rechts weitgehend entwertet. Eine Zeitlang schien es, als verlaufe die entscheidende politische Trennlinie nicht mehr zwischen Ideologien, sondern zwischen dem Lager der Lügen und «alternativen Fakten» auf der einen Seite und jenem der Realitätstreue und der faktenbasierten Entscheidungen auf der anderen.


Doch die jüngsten Entwicklungen, wie zuletzt Mamdanis Sieg bei den Vorwahlen in New York, zeigen, dass diese Unterscheidung nicht mehr trägt. Nachdem die Republikanische Partei vor der Maga-Bewegung kapituliert hatte, wirkte die Demokratische Partei trotz allen Widersprüchen und Defiziten eine Weile wie die letzte Bastion der Vernunft und liberaler politischer Kultur. Auch das ist offenkundig vorbei.


Ähnlich entwickelt sich die Lage in Europa – wenn auch mit Verzögerung. Für all jene, denen Fakten, Realitätssinn und Aufklärung noch etwas bedeuten, heisst das: Sie werden zunehmend politisch heimatlos. Und genau darin liegt die Tragik dieser Stunde.



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