„Wir sind kein Ermittlungskomitee“
- Nikolai Klimeniouk
- 7. Juni
- 7 Min. Lesezeit
Ein Skandal erschüttert den Schweizer Preis für russischsprachige Literatur „Dar“. Die Gewinnerin aus Odessa weist ihn zurück, und einem russischen Nominierten wird vorgeworfen, entführte ukrainische Kinder indoktriniert zu haben. Was genau ist passiert?
Veröffentlicht in: F.A.S., 08.06.2025

„Ich glaube nicht, dass die russischsprachige Literatur Unterstützung braucht“ – so erklärt die Dichterin Maria Galina, warum sie lieber auf den Literaturpreis „Dar“ verzichtet – eine in der Schweiz gegründete Auszeichnung, deren erste Preisträgerin sie werden sollte. Seit den Sowjetzeiten, so Galina in dem auf der Website des Preises veröffentlichten offenen Brief, seien die russische Literatur und Sprache ein Instrument der Soft Power, die im Westen ein attraktives Bild von Russland präge und letztlich Entscheidungen negativ beeinflusst habe, die die Ukraine betrafen. Und überhaupt, meint sie, sei die russische Literatur überbewertet.
Noch am selben Tag geriet Galinas politisch symbolträchtige Geste in den Schatten eines weiteren Eklats: Gegen einen Autor aus der Shortlist des Preises wurden Vorwürfe erhoben, er sei an der Indoktrinierung ukrainischer Kinder beteiligt gewesen, die aus besetzten Gebieten nach Russland verschleppt worden waren.
Die Ukrainerin Galina, die auf Russisch schreibt, lebt in Odessa. In ihrem Buch „Neben dem Krieg. Februar 2022 – Ljutyj 2023“ hält sie in Tagebuchform das erste Jahr der Invasion fest. Das Wort „Ljutyj“ im Titel ist der ukrainische Name des Monats Februar – eine Verschiebung, die bereits den Abschied von Russland markiert. Die russische Literatur müsse sich erst noch von den Verbrechen des Staates bereinigen und ihren Platz als eine unter vielen Weltliteraturen finden. Der Weg dahin wäre – so Galina – ein Abklingen der systemischen Förderung aus Russland. Ironischerweise springt genau an dieser Stelle nun der neue Preis ein.
Dieser wurde 2024 vom in der Schweiz lebenden Schriftsteller Michail Schischkin und einer Gruppe Schweizer Slawisten gegründet und von einer Reihe russischsprachiger Literaten und Intellektueller unterstützt, darunter die renommierten belarussischen Autoren Swetlana Alexijewitsch und Sasha Filipenko. Die Auszeichnung umfasst Fördermittel für die Übersetzung der ausgewählten Werke ins Englische, Deutsche und Französische sowie Hilfe bei deren Vermarktung. „Wir wollen unsere Sprache den putinschen Mördern nicht preisgeben, die das Land und selbst die Sprache in Geiselhaft genommen haben“, so Schischkin gegenüber der F.A.S. Laut Satzung soll der Preis Autoren fördern, die auf Russisch schreiben, unabhängig von ihrem Wohnort und ihrer Staatsangehörigkeit – und damit auch deutlich machen, dass Russisch keine Exklusivsprache der Russen ist.
Doch dieser Gleichberechtigungsanspruch spiegelt sich nicht in der Zusammensetzung der Gremien. Um über die eingereichten Werke zu urteilen, wurden zusätzlich zu den Gründern, die abstimmen können, aber nicht müssen, 29 Jurymitglieder berufen, von denen nur drei nicht aus Russland stammen, was zuerst niemandem auffiel. Das Expertengremium, das die Vorauswahl für die Jury trifft, besteht sogar ausschließlich aus Russen. Galina erzählt der F.A.S., sie habe die Nominierung zunächst akzeptiert, weil sie dachte, es handle sich um einen Preis der Schweizer Slawisten. Einen ähnlichen Eindruck bestätigten im Gespräch mehrere Personen, die in unterschiedlichen Funktionen mit dem Preis befasst waren. Dieser Eindruck sei aber nicht absichtlich erweckt worden, man habe nur die Gründer wahrgenommen und nicht genauer hingeschaut.
Nabokov hielt Abstand
Der Name des Preises, „Dar“, verweist auf den Titel von Vladimir Nabokovs letztem russischsprachigen Roman, der in deutscher Übersetzung „Die Gabe“ heißt. Sein Protagonist ist ein junger Schriftsteller in Berlin der 1920er Jahre, der ein Buch über den Sozialutopisten Nikolai Tschernyschewski schreibt und ihn dort als platt, ästhetisch stumpf und dogmatisch karikiert. Doch auch Nabokov war politisch zumindest in einem Punkt stur und unversöhnlich: Zeitlebens hielt er Abstand zu sowjetischen Autoren, selbst zu solchen, die verfolgt oder ausgewiesen worden waren, und betrachtete deren Werke als ideologisch kontaminiert und allein schon deshalb als minderwertig. Seit er Deutschland 1937 verlassen hatte, kehrte er nie zurück. Um nicht, wie er immer wieder betonte, aus Versehen einem ehemaligen Nazi oder Mittäter die Hand zu schütteln.
Der nach seinem Roman benannte Preis geht dagegen mit dem Thema Kollaboration eher kavalierhaft um. Zu den Mitgründern zählt etwa der russische Videoblogger Armen Sacharjan, bekannt für seine pointierten Literaturbesprechungen und sein zivilgesellschaftliches Engagement. Weniger bekannt ist, dass Sacharjan 2012–2013 für den Propagandasender Russia Today (RT) arbeitete, wo er zum Beispiel Russlands Beteiligung am Syrienkrieg als Friedensstiftung darstellte. Im Vergleich dazu erscheint die Biographie eines anderen Preismitgründers, Anton Dolin, fast harmlos: Er moderierte von 2012 bis 2020 eine respektable Filmsendung im Ersten Kanal, dem Flaggschiff des russischen Staatsfernsehens. Und in die Jury wurde die Schauspielerin und Philanthropin Tschulpan Chamatowa berufen, die 2011 öffentlich für Putin eintrat, mutmaßlich unter Druck. Seitdem ist sie stark umstritten.
Willkürliche Repressalien
Für den Preisgründer Schischkin kein Problem: Bei jedem Menschen, der in der UdSSR und später in Russland gelebt hat, sagt er gegenüber der F.A.S., ließen sich „Verbindungen“ zum Staat finden. Entscheidend sei allein die Haltung nach Beginn der Vollinvasion. Mehrere Menschen, die mit dem Preis verbunden sind, seien vom Regime als „ausländische Agenten“, „Extremisten“ und „Terroristen“ gebrandmarkt, und das stärke die Autorität des Preises, sagt Schischkin, als wären willkürliche Repressalien ein Qualitätsprädikat oder eine Absolution. Warum Chamatowa letztlich doch nicht in der Jury mitwirkte, obwohl sie auf der Website des Preises als Mitglied geführt wird, wollte Schischkin nicht erklären – das sei, so seine Formulierung, irrelevant. Chamatowa bestätigte gegenüber der F.A.S., sie sei angefragt worden, habe aber aufgrund eines technischen Missverständnisses nicht mitgemacht.
Dabei sollte ausgerechnet der Preisgründer für solche Fragen besonders sensibilisiert sein: 2022 geriet der Schriftsteller Juri Andruchowytsch in der Ukraine unter heftige Kritik, nachdem er gemeinsam mit Schischkin bei einem Festival in Norwegen aufgetreten war. Zu den Kritikern zählten prominente Stimmen der ukrainischen Literaturszene. Zwar war Schischkin persönlich nichts Konkretes vorzuwerfen, doch der gemeinsame Auftritt mit einem Russen wurde insgesamt als unangemessen verurteilt. Schischkin hätte aus dieser Erfahrung lernen können, dass man zum Beispiel in der Ukraine sehr genau hinschaut, in welchen Kontexten ukrainische Kulturschaffende auftreten. Stattdessen meint er, Andruchowytsch sei der Hetze ukrainischer Ultranationalisten ausgesetzt gewesen.
Der zweite Eklat, der am Tag von Galinas Rückzug geschah, war in diesem Kontext kaum überraschend. Die in Lwiw lebende russische Dichterin Galina Rymbu veröffentlichte auf Facebook einen Beitrag mit Vorwürfen gegen Denis Besnossow, einen der Autoren der Shortlist. In seiner Funktion als stellvertretender Direktor der Russischen Zentralen Kinderbibliothek sei er an Indoktrinationsmaßnahmen für ukrainische Kinder beteiligt gewesen, die nach Russland verschleppt worden waren. Fotos und Berichte auf der Seite und den Social-Media-Kanälen der Bibliothek belegen seine Anwesenheit bei Veranstaltungen mit bekannten Z-Propagandisten, die er zum Teil selbst auf der Bühne vorstellt. Rymbu mutmaßt, dass er auch an Planung oder Konzeption beteiligt gewesen sein könnte – mindestens aber über Inhalte und Zielgruppen im Bilde war. Sie interpretiert es als Beteiligung an einem Genozid gegen das ukrainische Volk – im Sinne der PACE-Resolution vom April 2023, die genau solche Aktivitäten als Bestandteile des Völkermords anführt. Es gebe auch biographische Unstimmigkeiten: So habe Besnossow als sein Kündigungsdatum mal September, mal November 2022 genannt. Beide liegen deutlich nach Beginn der Vollinvasion, das genaue Datum sei jedoch entscheidend mit Blick auf einige der fraglichen Aktivitäten.
Sturm der Entrüstung
In informellen Gesprächen äußerten einige der am Preis beteiligten Personen, sie hielten die Vorwürfe inhaltlich für nachvollziehbar, die Einstufung als „Genozid“ jedoch für überzogen – wollten sich dazu aber nicht öffentlich äußern. In der ersten Stellungnahme schrieb der Preisgründer Schischkin, man nehme die Vorwürfe ernst, der Literaturpreis sei aber kein „Ermittlungskomitee“ und werde reagieren, wenn eine „offizielle Bestätigung“ vorliege. „Das Ermittlungskomitee“ ist dabei kein generischer Ausdruck, so heißt die berüchtigte russische Behörde, die Strafverfahren gegen Regimegegner und Andersdenkende fabriziert. Die Reaktion auf Rymbus Enthüllung war ein Sturm der Entrüstung gegen sie selbst – zuerst auf Facebook, dann in Exilmedien.
Ein Mitglied des Expertengremiums des Preises nannte Rymbus Beitrag eine Provokation, „widerwärtige Manipulation und Hype-Suche ohne Substanz“. Das Jury-Mitglied Oleg Lekmanow sagte, es sei eine Niedertracht, jemandem, der bloß auf einem Gruppenfoto neben einem Kriegsunterstützer stehe und dessen Namen von der Bühne ausrufe, gleich Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu unterstellen. Und das Jury-Mitglied Polina Barskowa unterstellte ihrerseits Rymbu, selbst Kollaborateurin zu sein – weil sie Hetze anfeuere, Lügen verbreite, Spaltung säe und damit genau das tue, was das Regime wolle: „dass wir uns alle selbst vernichten“. Damit drückt die Dichterin und Berkeley-Professorin Barskowa eine in russischen Kulturkreisen weitverbreitete Haltung aus: jede substanzielle Kritik als existenzielle Bedrohung aufzufassen.
Dieser Reflex, auf Vorwürfe gegen vermeintlich regimekritische Intellektuelle oder Künstler mit Empörung über diejenigen zu reagieren, die sie erheben, ist ein altbekanntes Phänomen. Als etwa der Politologe Wjatscheslaw Morosow 2023 in Estland wegen Spionageverdachts verhaftet wurde, sprang ihm die russische Öffentlichkeit bei und sparte nicht mit Vorwürfen an Estland. Selbst nach seinem umfassenden Geständnis über seine Tätigkeit für den russischen Militärgeheimdienst GRU fanden sich regimekritische Russen, die ihn kannten – und nun argumentierten, er könne gar kein Spion gewesen sein, weil er doch nur, so ihre Vermutung, „analytisch“ gearbeitet habe. Was spektakulär ausblieb, war ein öffentlicher Aufschrei über seinen Verrat.
Gleichzeitig neigt man in diesen Kreisen dazu, unliebsame Enthüllungen als mögliche Geheimdienstoperationen zu deuten: So schrieb der Dichter Dmitrij Kusmin, er habe Hinweise, dass russische Sicherheitsbehörden gezielt Provokationen vorbereiteten, um die Exilopposition zu spalten – und man müsse die Vorwürfe gegen Besnossow in diesem Licht sehen.
Tatsächlich häufen sich im Umfeld der russischen Exilopposition Berichte über Spionage, Vergiftungen und andere verdächtige Vorfälle. Und so war es im Fall Besnossows, der nun in Armenien lebt, eine naheliegende Vorsichtsmaßnahme, seinen Namen zu googeln, als er als Trainer für einen Schreibworkshop vorgeschlagen wurde, an dessen Organisation Galina Rymbu beteiligt war. Der Rest, erzählt sie der F.A.S., war nicht schwer zu finden.
Nach einigen Tagen des Schweigens räumte Denis Besnossow schließlich ein, in dienstlicher Funktion an den fraglichen Veranstaltungen teilgenommen zu haben, bei denen es, wie er formulierte, zu einem „Treffen mit Kindern aus der Ukraine“ gekommen sei. Die Vorwürfe nannte er eine Unverschämtheit. Doch diese Kinder waren dort nicht auf Klassenfahrt – und „das Treffen“ mit einem bekannten Z-Propagandisten war eine Indoktrinierungsveranstaltung. An dieser Stelle klaffen die russische und die ukrainische Perspektive weit auseinander: Für den russischen Literaten war es eine unangenehme Dienstverpflichtung, in der er sich gar in einer doppelten Opferrolle sieht – als Betroffener staatlichen Mitwirkungszwangs und zugleich als Ziel aktivistischer Diffamierung. Aus ukrainischer Sicht hingegen war es eine – wenn auch möglicherweise indirekte – Beteiligung an einem schweren Menschenrechtsverbrechen.
Inzwischen wurde Denis Besnossow in die umstrittene ukrainische Online-Datenbank „Mirotworez“ aufgenommen – eine Plattform, die Personen auflistet, die nach Ansicht ihrer Betreiber eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellen. Im Fall Besnossow enthält der mit zahlreichen Links belegte Eintrag deutlich schwerwiegendere Anschuldigungen als Rymbus ursprünglicher Post.
Der Literaturpreis „Dar“ war gut gemeint. In seinen Gremien sitzen auch herausragende Autoren und Intellektuelle, deren Verdienste unbestritten sind. Dass es dennoch von Anfang an zu diesen Eklats kam, verweist auf ein systemisches Problem, das Maria Galina in ihrem offenen Brief benennt: die Dominanz der russischen Sichtweise, die – trotz bester Absichten – alle anderen Perspektiven überdeckt.